Papier: 1.5 Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

Originalversion

1 Neben den unter 3.1 erwähnten grundlegenden Entscheidungen,
2 dem „Volkszählungsurteil“ sowie dem Urteil zur
3 „Online-Durchsuchung“, hat sich das Bundesverfassungsgericht
4 in einer Reihe weiterer Entscheidungen mit Fragen der
5 informationellen Selbstbestimmung und verwandter Grundrechte
6 befasst. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht
7 enthält im Bereich des Datenschutzes vielfach sehr konkrete
8 und detaillierte Vorgaben für das gesetzgeberische Handeln.
9 [Fußnote: Gurlit, NJW 2010, 1035; Wolff NVwZ 2010, 751.] Aus
10 der umfangreichen Rechtsprechung des Gerichts zum
11 Datenschutz sei beispielhaft auf folgende Entscheidungen
12 hingewiesen:
13
14 Gegenstand des Urteils vom 14. Juli 1999 [Fußnote:
15 „Telekommunikationsüberwachung“, BVerfGE 100, 313 ff.] waren
16 erweiterte Befugnisse des Bundesnachrichtendienstes zur
17 Überwachung, Aufzeichnung und Auswertung des
18 Telekommunikationsverkehrs sowie zur Übermittlung der daraus
19 erlangten Daten an andere Behörden. 1994 war das Gesetz zur
20 Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (G
21 10) mit dem Ziel geändert worden, Informationen u. a. im
22 Bereich des internationalen Terrorismus, des Drogenhandels
23 und der Geldwäsche zu erlangen, um sie nachfolgend den
24 zuständigen Behörden zur Verhinderung, Aufklärung und
25 Verfolgung von Straftaten zur Verfügung zu stellen [Fußnote:
26 Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. Oktober 1994, BGBl. I
27 S. 3186.]. Mit Beschluss vom 5. Juli 1995 [Fußnote: BVerfGE
28 93, 181.] bestimmte das Bundesverfassungsgericht im Rahmen
29 einer einstweiligen Anordnung, dass einzelne der
30 neugefassten Vorschriften zunächst nur eingeschränkt
31 angewendet werden dürften. In der Hauptsache urteilte das
32 Gericht 1999, einzelne Vorschriften verstießen gegen Art. 10
33 GG. Das Fernmeldegeheimnis schütze in erster Linie den
34 Kommunikationsinhalt vor staatlicher Kenntnisnahme, daneben
35 aber auch die Kommunikationsumstände. Der Schutz erstrecke
36 sich auch auf den Informations- und
37 Datenverarbeitungsprozess, der sich an zulässige
38 Kenntnisnahmen von geschützten Kommunikationsvorgängen
39 anschließe, und den Gebrauch, der von den erlangten
40 Kenntnissen gemacht werde. Solle der Bundesnachrichtendienst
41 zu Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis ermächtigt werden,
42 sei der Gesetzgeber verpflichtet, Vorsorge gegen Gefahren zu
43 treffen, die sich aus der Erhebung und Verwertung
44 personenbezogener Daten ergeben. Hierzu verwies das Gericht
45 auf die im Volkszählungsurteil entwickelten Kriterien für
46 Eingriffe in Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG. Diese
47 seien auch auf die speziellere Regelung des Art. 10 GG
48 übertragbar. Speicherung und Verwendung erlangter Daten
49 seien grundsätzlich an den Zweck gebunden, den das zur
50 Kenntnisnahme ermächtigende Gesetz festgelegt habe.
51 Zweckänderungen seien nur durch Allgemeinbelange
52 gerechtfertigt, die die grundrechtlich geschützten
53 Interessen überwiegen. Eine Sammlung nicht anonymisierter
54 Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht
55 bestimmbaren Zwecken sei mit diesen Vorgaben unvereinbar.
56
57 Mit Beschluss vom 14. Dezember 2000 [Fußnote: „Genetischer
58 Fingerabdruck“, BVerfGE 103, 21.] stellt das Gericht fest,
59 dass die Feststellung, Speicherung und künftige Verwendung
60 des „genetischen Fingerabdrucks“ auf der Grundlage von § 81g
61 StPO und § 2 DNA-Identitätsfeststellungsgesetz in das Recht
62 auf informationelle Selbstbestimmung eingreife, es sich aber
63 um einen rechtlich zulässigen Grundrechtseingriff handele,
64 da u. a. das Gebot der Normenklarheit, das Übermaßverbot und
65 der Richtervorbehalt gewahrt seien.
66
67 Im Urteil vom 12. April 2005 [Fußnote: „GPS-Überwachung“,
68 BVerfGE 112, 304.] äußerte sich das Bundesverfassungsgericht
69 zu einer weiteren Vorschrift der Strafprozessordnung.
70 Gesetzliche Grundlage für Beweiserhebungen unter Einsatz
71 eines satellitengestützten Ortungssystem
72 (Global-Positioning-System, “GPS“) und die Verwertung der
73 Erkenntnisse war im zu Grunde liegenden Sachverhalt § 100c
74 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b Strafprozessordnung (StPO) damaliger
75 Fassung, wonach ohne Wissen des Betroffenen „besondere für
76 Observationszwecke bestimmte technische Mittel“ eingesetzt
77 werden konnten. Die Vorschrift sei verfassungsgemäß, da sie
78 hinreichend bestimmt sei und nicht in den unantastbaren
79 Kernbereich privater Lebensgestaltung eingreife. Wegen des
80 schnellen und für den Grundrechtsschutz riskanten
81 informationstechnischen Wandels sei der Gesetzgeber aber
82 aufgerufen, die technischen Entwicklungen aufmerksam zu
83 verfolgen und notfalls korrigierend einzugreifen.
84
85 Die Durchsuchung und Beschlagnahme des gesamten
86 elektronischen Datenbestands einer ge-meinsam betriebenen
87 Rechtsanwaltskanzlei und Steuerberatungsgesellschaft
88 (Beschluss vom 12. April 2005 [Fußnote: „Beschlagnahme von
89 Datenträgern“, BVerfGE 113, 29.]) im Rahmen eines gegen
90 einen der Berufsträger gerichteten Ermittlungsverfahrens
91 qualifizierte das Bundesverfassungsgericht als erheblichen
92 Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung,
93 dem durch strikte Beachtung des
94 Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und bestimmter
95 Verfahrensregelungen Rechnung getragen werden müsse. Zu
96 berücksichtigen sei u. a., dass das Vertrauensverhältnis
97 zwischen Rechtsanwälten und Mandanten rechtlich besonders
98 geschützt und durch die Streubreite der sichergestellten
99 Daten eine Vielzahl gänzlich unbeteiligter Personen von der
100 Beschlagnahme betroffen sei.
101
102 Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der Rasterfahndung,
103 bei der den Polizeibehörden von anderen Stellen
104 personenbezogene Daten übermittelt und nachfolgend einem
105 automatisierten Abgleich nach bestimmten Merkmalen
106 unterzogen werden, hat das Bundesverfassungsgericht mit
107 Beschluss vom 4. April 2006 entschieden. Eine präventive
108 polizeiliche Rasterfahndung stelle einen Grundrechtseingriff
109 von besonderer Intensität dar und sei daher mit dem
110 Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nur dann
111 vereinbar, wenn eine konkrete Gefahr für hochrangige
112 Rechtsgüter wie den Bestand oder die Sicherheit des Bundes
113 oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer
114 Person gegeben sei [Fußnote: „Rasterfahndung“, BVerfGE 93,
115 181.]. Eine allgemeine Bedrohungslage, wie etwa seit dem 11.
116 September 2001, ohne das Vorliegen weiterer Tatsachen, sei
117 dafür nicht ausreichend.
118
119 Mit Beschluss vom 13. Juni 2007 [Fußnote: „Kontenabfrage“,
120 BVerfGE 118, 68.] erklärte das Gericht Vorschriften zum
121 automatischen Kontenabruf teilweise für verfassungswidrig,
122 da gegen den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz
123 verstoßen werde. Die angegriffenen Regelungen ermächtigten
124 einzelne Behörden zur automatisierten Abfrage von Daten, die
125 von den Kreditinstituten vorgehalten werden müssen. Soweit
126 das Gebot der Normenklarheit nicht eingehalten worden sei,
127 verstoße die Regelung gegen das Recht auf informationelle
128 Selbstbestimmung. Einen solchen Verstoß bejahte das Gericht
129 hinsichtlich § 93 Abs. 8 Abgabenordnung (AO) damaliger
130 Fassung, da der Kreis der zur Kontenabfrage berechtigten
131 Behörden und die dabei verfolgten Zwecke nicht hinreichend
132 festgelegt worden seien.
133
134 Auch eine Geschwindigkeitsmessung auf der Grundlage einer
135 Verwaltungsvorschrift stellt nach der Rechtsprechung des
136 Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 11. August 2009
137 [Fußnote: „Verkehrsüberwachung“, NJW 2009, 3293.]) eine
138 unzulässige Einschränkung des Rechts auf informationelle
139 Selbstbestimmung dar, da eine solche Maßnahme nur auf
140 gesetzlicher Grundlage, die dem Gebot der Normenklarheit und
141 Verhältnismäßigkeit zu entsprechen habe, zulässig sei.
142
143 Die Einführung der Vorratsdatenspeicherung durch das „Gesetz
144 zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung“ [Fußnote:
145 Vom 21. Dezember 2007, BGBl. I S. 3198.] zur Umsetzung der
146 Richtlinie 2006/24 /EG in deutsches Recht ist Gegenstand
147 mehrerer Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Nach
148 § 113a TKG waren Telekommunikationsdiensteanbieter
149 verpflichtet, Verkehrsdaten von Telefondiensten (Festnetz,
150 Mobilfunk, Fax, SMS, MMS), E-Mail-Diensten und
151 Internetdiensten vorsorglich anlasslos für die Dauer von
152 sechs Monaten zu speichern. Die zulässigen Zwecke der
153 Datenverwendung waren in § 113b TKG, die Verwendung der
154 Daten für die Strafverfolgung in § 100g StPO geregelt.
155 Nachdem das Gericht mit Beschluss vom 28. Oktober 2008
156 [Fußnote: BVerfGE 122, 120.] im Wege der einstweiligen
157 Anordnung Teile der Vorratsdatenspeicherung außer Kraft
158 gesetzt hatte, entschied es mit Urteil vom 2. März 2010
159 [Fußnote: “Vorratsdatenspeicherung”, NJW 2010, 833.] in der
160 Hauptsache, dass die Regelung des TKG und der StPO über die
161 Vorratsdatenspeicherung mit Art. 10 Abs. 1 GG nicht
162 unvereinbar und damit nichtig seien. Die
163 Vorratsdatenspeicherung durch private
164 Telekommunikationsunter-nehmen greife in den Schutzbereich
165 des Fernmeldegeheimnis ein, da diese als „Hilfspersonen“ für
166 die Aufgabenerfüllung staatlicher Behörden in Anspruch
167 genommen würden. Zwar sei eine Speicherungspflicht in dem
168 vorgesehenen Umfang nicht von vornherein schlechthin
169 verfassungswidrig. Es fehle aber an einer dem
170 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechenden Ausgestaltung.
171 Datensicherheit, Begrenzung der Verwendungszwecke,
172 verfassungsrechtliche Transparenz und
173 Rechtschutzanforderungen seien nicht hinreichend
174 gewährleistet.
175 Für die Frage, zum Schutz welcher Rechtsgüter der Datenabruf
176 als verhältnismäßig anzusehen ist, differenziert das Gericht
177 zwischen der unmittelbaren und mittelbaren Nutzung der
178 Daten. Der Abruf und die unmittelbare Nutzung der Daten
179 seien nur verhältnismäßig, wenn sie überragend wichtigen
180 Aufgaben des Rechtsgüterschutzes dienten. Im Bereich der
181 Strafverfolgung setzte dies einen durch bestimmte Tatsachen
182 begründeten Verdacht einer schweren Straftat voraus. Für die
183 Gefahrenabwehr und die Erfüllung der Aufgaben der
184 Nachrichtendienste dürften sie nur bei Vorliegen
185 tatsächlicher Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr für
186 Leib, Leben oder Freiheit einer Person, für den Bestand oder
187 die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für eine
188 gemeine Gefahr zugelassen werden.
189 Soweit die Behörden in §§ 113b Satz 1 Halbs. 2, 113 TKG zur
190 Identifizierung von IP-Adressen berechtigt wurden, von
191 Diensteanbietern auf der Grundlage gespeicherter
192 Verkehrsdaten die Identität bestimmter, bereits bekannter
193 IP-Adressen zu erfragen, sei diese nur mittelbare Nutzung
194 der Daten auch unabhängig von begrenzenden Straftaten- oder
195 Rechtsgüterkatalogen für die Strafverfolgung, Gefahrenabwehr
196 und die Wahrnehmung nachrichtendienstlicher Aufgaben
197 zulässig. Für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten
198 könnten solche Auskünfte hingegen nur in gesetzlich
199 ausdrücklich benannten Fällen von besonderem Gewicht erlaubt
200 werden.

Der Text verglichen mit der Originalversion

1 Neben den unter 3.1 erwähnten grundlegenden Entscheidungen,
2 dem „Volkszählungsurteil“ sowie dem Urteil zur
3 „Online-Durchsuchung“, hat sich das Bundesverfassungsgericht
4 in einer Reihe weiterer Entscheidungen mit Fragen der
5 informationellen Selbstbestimmung und verwandter Grundrechte
6 befasst. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht
7 enthält im Bereich des Datenschutzes vielfach sehr konkrete
8 und detaillierte Vorgaben für das gesetzgeberische Handeln.
9 [Fußnote: Gurlit, NJW 2010, 1035; Wolff NVwZ 2010, 751.] Aus
10 der umfangreichen Rechtsprechung des Gerichts zum
11 Datenschutz sei beispielhaft auf folgende Entscheidungen
12 hingewiesen:
13
14 Gegenstand des Urteils vom 14. Juli 1999 [Fußnote:
15 „Telekommunikationsüberwachung“, BVerfGE 100, 313 ff.] waren
16 erweiterte Befugnisse des Bundesnachrichtendienstes zur
17 Überwachung, Aufzeichnung und Auswertung des
18 Telekommunikationsverkehrs sowie zur Übermittlung der daraus
19 erlangten Daten an andere Behörden. 1994 war das Gesetz zur
20 Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (G
21 10) mit dem Ziel geändert worden, Informationen u. a. im
22 Bereich des internationalen Terrorismus, des Drogenhandels
23 und der Geldwäsche zu erlangen, um sie nachfolgend den
24 zuständigen Behörden zur Verhinderung, Aufklärung und
25 Verfolgung von Straftaten zur Verfügung zu stellen [Fußnote:
26 Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. Oktober 1994, BGBl. I
27 S. 3186.]. Mit Beschluss vom 5. Juli 1995 [Fußnote: BVerfGE
28 93, 181.] bestimmte das Bundesverfassungsgericht im Rahmen
29 einer einstweiligen Anordnung, dass einzelne der
30 neugefassten Vorschriften zunächst nur eingeschränkt
31 angewendet werden dürften. In der Hauptsache urteilte das
32 Gericht 1999, einzelne Vorschriften verstießen gegen Art. 10
33 GG. Das Fernmeldegeheimnis schütze in erster Linie den
34 Kommunikationsinhalt vor staatlicher Kenntnisnahme, daneben
35 aber auch die Kommunikationsumstände. Der Schutz erstrecke
36 sich auch auf den Informations- und
37 Datenverarbeitungsprozess, der sich an zulässige
38 Kenntnisnahmen von geschützten Kommunikationsvorgängen
39 anschließe, und den Gebrauch, der von den erlangten
40 Kenntnissen gemacht werde. Solle der Bundesnachrichtendienst
41 zu Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis ermächtigt werden,
42 sei der Gesetzgeber verpflichtet, Vorsorge gegen Gefahren zu
43 treffen, die sich aus der Erhebung und Verwertung
44 personenbezogener Daten ergeben. Hierzu verwies das Gericht
45 auf die im Volkszählungsurteil entwickelten Kriterien für
46 Eingriffe in Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG. Diese
47 seien auch auf die speziellere Regelung des Art. 10 GG
48 übertragbar. Speicherung und Verwendung erlangter Daten
49 seien grundsätzlich an den Zweck gebunden, den das zur
50 Kenntnisnahme ermächtigende Gesetz festgelegt habe.
51 Zweckänderungen seien nur durch Allgemeinbelange
52 gerechtfertigt, die die grundrechtlich geschützten
53 Interessen überwiegen. Eine Sammlung nicht anonymisierter
54 Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht
55 bestimmbaren Zwecken sei mit diesen Vorgaben unvereinbar.
56
57 Mit Beschluss vom 14. Dezember 2000 [Fußnote: „Genetischer
58 Fingerabdruck“, BVerfGE 103, 21.] stellt das Gericht fest,
59 dass die Feststellung, Speicherung und künftige Verwendung
60 des „genetischen Fingerabdrucks“ auf der Grundlage von § 81g
61 StPO und § 2 DNA-Identitätsfeststellungsgesetz in das Recht
62 auf informationelle Selbstbestimmung eingreife, es sich aber
63 um einen rechtlich zulässigen Grundrechtseingriff handele,
64 da u. a. das Gebot der Normenklarheit, das Übermaßverbot und
65 der Richtervorbehalt gewahrt seien.
66
67 Im Urteil vom 12. April 2005 [Fußnote: „GPS-Überwachung“,
68 BVerfGE 112, 304.] äußerte sich das Bundesverfassungsgericht
69 zu einer weiteren Vorschrift der Strafprozessordnung.
70 Gesetzliche Grundlage für Beweiserhebungen unter Einsatz
71 eines satellitengestützten Ortungssystem
72 (Global-Positioning-System, “GPS“) und die Verwertung der
73 Erkenntnisse war im zu Grunde liegenden Sachverhalt § 100c
74 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b Strafprozessordnung (StPO) damaliger
75 Fassung, wonach ohne Wissen des Betroffenen „besondere für
76 Observationszwecke bestimmte technische Mittel“ eingesetzt
77 werden konnten. Die Vorschrift sei verfassungsgemäß, da sie
78 hinreichend bestimmt sei und nicht in den unantastbaren
79 Kernbereich privater Lebensgestaltung eingreife. Wegen des
80 schnellen und für den Grundrechtsschutz riskanten
81 informationstechnischen Wandels sei der Gesetzgeber aber
82 aufgerufen, die technischen Entwicklungen aufmerksam zu
83 verfolgen und notfalls korrigierend einzugreifen.
84
85 Die Durchsuchung und Beschlagnahme des gesamten
86 elektronischen Datenbestands einer ge-meinsam betriebenen
87 Rechtsanwaltskanzlei und Steuerberatungsgesellschaft
88 (Beschluss vom 12. April 2005 [Fußnote: „Beschlagnahme von
89 Datenträgern“, BVerfGE 113, 29.]) im Rahmen eines gegen
90 einen der Berufsträger gerichteten Ermittlungsverfahrens
91 qualifizierte das Bundesverfassungsgericht als erheblichen
92 Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung,
93 dem durch strikte Beachtung des
94 Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und bestimmter
95 Verfahrensregelungen Rechnung getragen werden müsse. Zu
96 berücksichtigen sei u. a., dass das Vertrauensverhältnis
97 zwischen Rechtsanwälten und Mandanten rechtlich besonders
98 geschützt und durch die Streubreite der sichergestellten
99 Daten eine Vielzahl gänzlich unbeteiligter Personen von der
100 Beschlagnahme betroffen sei.
101
102 Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der Rasterfahndung,
103 bei der den Polizeibehörden von anderen Stellen
104 personenbezogene Daten übermittelt und nachfolgend einem
105 automatisierten Abgleich nach bestimmten Merkmalen
106 unterzogen werden, hat das Bundesverfassungsgericht mit
107 Beschluss vom 4. April 2006 entschieden. Eine präventive
108 polizeiliche Rasterfahndung stelle einen Grundrechtseingriff
109 von besonderer Intensität dar und sei daher mit dem
110 Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nur dann
111 vereinbar, wenn eine konkrete Gefahr für hochrangige
112 Rechtsgüter wie den Bestand oder die Sicherheit des Bundes
113 oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer
114 Person gegeben sei [Fußnote: „Rasterfahndung“, BVerfGE 93,
115 181.]. Eine allgemeine Bedrohungslage, wie etwa seit dem 11.
116 September 2001, ohne das Vorliegen weiterer Tatsachen, sei
117 dafür nicht ausreichend.
118
119 Mit Beschluss vom 13. Juni 2007 [Fußnote: „Kontenabfrage“,
120 BVerfGE 118, 68.] erklärte das Gericht Vorschriften zum
121 automatischen Kontenabruf teilweise für verfassungswidrig,
122 da gegen den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz
123 verstoßen werde. Die angegriffenen Regelungen ermächtigten
124 einzelne Behörden zur automatisierten Abfrage von Daten, die
125 von den Kreditinstituten vorgehalten werden müssen. Soweit
126 das Gebot der Normenklarheit nicht eingehalten worden sei,
127 verstoße die Regelung gegen das Recht auf informationelle
128 Selbstbestimmung. Einen solchen Verstoß bejahte das Gericht
129 hinsichtlich § 93 Abs. 8 Abgabenordnung (AO) damaliger
130 Fassung, da der Kreis der zur Kontenabfrage berechtigten
131 Behörden und die dabei verfolgten Zwecke nicht hinreichend
132 festgelegt worden seien.
133
134 Auch eine Geschwindigkeitsmessung auf der Grundlage einer
135 Verwaltungsvorschrift stellt nach der Rechtsprechung des
136 Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 11. August 2009
137 [Fußnote: „Verkehrsüberwachung“, NJW 2009, 3293.]) eine
138 unzulässige Einschränkung des Rechts auf informationelle
139 Selbstbestimmung dar, da eine solche Maßnahme nur auf
140 gesetzlicher Grundlage, die dem Gebot der Normenklarheit und
141 Verhältnismäßigkeit zu entsprechen habe, zulässig sei.
142
143 Die Einführung der Vorratsdatenspeicherung durch das „Gesetz
144 zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung“ [Fußnote:
145 Vom 21. Dezember 2007, BGBl. I S. 3198.] zur Umsetzung der
146 Richtlinie 2006/24 /EG in deutsches Recht ist Gegenstand
147 mehrerer Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Nach
148 § 113a TKG waren Telekommunikationsdiensteanbieter
149 verpflichtet, Verkehrsdaten von Telefondiensten (Festnetz,
150 Mobilfunk, Fax, SMS, MMS), E-Mail-Diensten und
151 Internetdiensten vorsorglich anlasslos für die Dauer von
152 sechs Monaten zu speichern. Die zulässigen Zwecke der
153 Datenverwendung waren in § 113b TKG, die Verwendung der
154 Daten für die Strafverfolgung in § 100g StPO geregelt.
155 Nachdem das Gericht mit Beschluss vom 28. Oktober 2008
156 [Fußnote: BVerfGE 122, 120.] im Wege der einstweiligen
157 Anordnung Teile der Vorratsdatenspeicherung außer Kraft
158 gesetzt hatte, entschied es mit Urteil vom 2. März 2010
159 [Fußnote: “Vorratsdatenspeicherung”, NJW 2010, 833.] in der
160 Hauptsache, dass die Regelung des TKG und der StPO über die
161 Vorratsdatenspeicherung mit Art. 10 Abs. 1 GG nicht
162 unvereinbar und damit nichtig seien. Die
163 Vorratsdatenspeicherung durch private
164 Telekommunikationsunter-nehmen greife in den Schutzbereich
165 des Fernmeldegeheimnis ein, da diese als „Hilfspersonen“ für
166 die Aufgabenerfüllung staatlicher Behörden in Anspruch
167 genommen würden. Zwar sei eine Speicherungspflicht in dem
168 vorgesehenen Umfang nicht von vornherein schlechthin
169 verfassungswidrig. Es fehle aber an einer dem
170 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechenden Ausgestaltung.
171 Datensicherheit, Begrenzung der Verwendungszwecke,
172 verfassungsrechtliche Transparenz und
173 Rechtschutzanforderungen seien nicht hinreichend
174 gewährleistet.
175 Für die Frage, zum Schutz welcher Rechtsgüter der Datenabruf
176 als verhältnismäßig anzusehen ist, differenziert das Gericht
177 zwischen der unmittelbaren und mittelbaren Nutzung der
178 Daten. Der Abruf und die unmittelbare Nutzung der Daten
179 seien nur verhältnismäßig, wenn sie überragend wichtigen
180 Aufgaben des Rechtsgüterschutzes dienten. Im Bereich der
181 Strafverfolgung setzte dies einen durch bestimmte Tatsachen
182 begründeten Verdacht einer schweren Straftat voraus. Für die
183 Gefahrenabwehr und die Erfüllung der Aufgaben der
184 Nachrichtendienste dürften sie nur bei Vorliegen
185 tatsächlicher Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr für
186 Leib, Leben oder Freiheit einer Person, für den Bestand oder
187 die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für eine
188 gemeine Gefahr zugelassen werden.
189 Soweit die Behörden in §§ 113b Satz 1 Halbs. 2, 113 TKG zur
190 Identifizierung von IP-Adressen berechtigt wurden, von
191 Diensteanbietern auf der Grundlage gespeicherter
192 Verkehrsdaten die Identität bestimmter, bereits bekannter
193 IP-Adressen zu erfragen, sei diese nur mittelbare Nutzung
194 der Daten auch unabhängig von begrenzenden Straftaten- oder
195 Rechtsgüterkatalogen für die Strafverfolgung, Gefahrenabwehr
196 und die Wahrnehmung nachrichtendienstlicher Aufgaben
197 zulässig. Für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten
198 könnten solche Auskünfte hingegen nur in gesetzlich
199 ausdrücklich benannten Fällen von besonderem Gewicht erlaubt
200 werden.

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