1.5 Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

1-1 von 1
  • 1.5 Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Originalversion)

    von EnqueteBuero, angelegt
    1 Neben den unter 3.1 erwähnten grundlegenden Entscheidungen,
    2 dem „Volkszählungsurteil“ sowie dem Urteil zur
    3 „Online-Durchsuchung“, hat sich das Bundesverfassungsgericht
    4 in einer Reihe weiterer Entscheidungen mit Fragen der
    5 informationellen Selbstbestimmung und verwandter Grundrechte
    6 befasst. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht
    7 enthält im Bereich des Datenschutzes vielfach sehr konkrete
    8 und detaillierte Vorgaben für das gesetzgeberische Handeln.
    9 [Fußnote: Gurlit, NJW 2010, 1035; Wolff NVwZ 2010, 751.] Aus
    10 der umfangreichen Rechtsprechung des Gerichts zum
    11 Datenschutz sei beispielhaft auf folgende Entscheidungen
    12 hingewiesen:
    13
    14 Gegenstand des Urteils vom 14. Juli 1999 [Fußnote:
    15 „Telekommunikationsüberwachung“, BVerfGE 100, 313 ff.] waren
    16 erweiterte Befugnisse des Bundesnachrichtendienstes zur
    17 Überwachung, Aufzeichnung und Auswertung des
    18 Telekommunikationsverkehrs sowie zur Übermittlung der daraus
    19 erlangten Daten an andere Behörden. 1994 war das Gesetz zur
    20 Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (G
    21 10) mit dem Ziel geändert worden, Informationen u. a. im
    22 Bereich des internationalen Terrorismus, des Drogenhandels
    23 und der Geldwäsche zu erlangen, um sie nachfolgend den
    24 zuständigen Behörden zur Verhinderung, Aufklärung und
    25 Verfolgung von Straftaten zur Verfügung zu stellen [Fußnote:
    26 Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. Oktober 1994, BGBl. I
    27 S. 3186.]. Mit Beschluss vom 5. Juli 1995 [Fußnote: BVerfGE
    28 93, 181.] bestimmte das Bundesverfassungsgericht im Rahmen
    29 einer einstweiligen Anordnung, dass einzelne der
    30 neugefassten Vorschriften zunächst nur eingeschränkt
    31 angewendet werden dürften. In der Hauptsache urteilte das
    32 Gericht 1999, einzelne Vorschriften verstießen gegen Art. 10
    33 GG. Das Fernmeldegeheimnis schütze in erster Linie den
    34 Kommunikationsinhalt vor staatlicher Kenntnisnahme, daneben
    35 aber auch die Kommunikationsumstände. Der Schutz erstrecke
    36 sich auch auf den Informations- und
    37 Datenverarbeitungsprozess, der sich an zulässige
    38 Kenntnisnahmen von geschützten Kommunikationsvorgängen
    39 anschließe, und den Gebrauch, der von den erlangten
    40 Kenntnissen gemacht werde. Solle der Bundesnachrichtendienst
    41 zu Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis ermächtigt werden,
    42 sei der Gesetzgeber verpflichtet, Vorsorge gegen Gefahren zu
    43 treffen, die sich aus der Erhebung und Verwertung
    44 personenbezogener Daten ergeben. Hierzu verwies das Gericht
    45 auf die im Volkszählungsurteil entwickelten Kriterien für
    46 Eingriffe in Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG. Diese
    47 seien auch auf die speziellere Regelung des Art. 10 GG
    48 übertragbar. Speicherung und Verwendung erlangter Daten
    49 seien grundsätzlich an den Zweck gebunden, den das zur
    50 Kenntnisnahme ermächtigende Gesetz festgelegt habe.
    51 Zweckänderungen seien nur durch Allgemeinbelange
    52 gerechtfertigt, die die grundrechtlich geschützten
    53 Interessen überwiegen. Eine Sammlung nicht anonymisierter
    54 Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht
    55 bestimmbaren Zwecken sei mit diesen Vorgaben unvereinbar.
    56
    57 Mit Beschluss vom 14. Dezember 2000 [Fußnote: „Genetischer
    58 Fingerabdruck“, BVerfGE 103, 21.] stellt das Gericht fest,
    59 dass die Feststellung, Speicherung und künftige Verwendung
    60 des „genetischen Fingerabdrucks“ auf der Grundlage von § 81g
    61 StPO und § 2 DNA-Identitätsfeststellungsgesetz in das Recht
    62 auf informationelle Selbstbestimmung eingreife, es sich aber
    63 um einen rechtlich zulässigen Grundrechtseingriff handele,
    64 da u. a. das Gebot der Normenklarheit, das Übermaßverbot und
    65 der Richtervorbehalt gewahrt seien.
    66
    67 Im Urteil vom 12. April 2005 [Fußnote: „GPS-Überwachung“,
    68 BVerfGE 112, 304.] äußerte sich das Bundesverfassungsgericht
    69 zu einer weiteren Vorschrift der Strafprozessordnung.
    70 Gesetzliche Grundlage für Beweiserhebungen unter Einsatz
    71 eines satellitengestützten Ortungssystem
    72 (Global-Positioning-System, “GPS“) und die Verwertung der
    73 Erkenntnisse war im zu Grunde liegenden Sachverhalt § 100c
    74 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b Strafprozessordnung (StPO) damaliger
    75 Fassung, wonach ohne Wissen des Betroffenen „besondere für
    76 Observationszwecke bestimmte technische Mittel“ eingesetzt
    77 werden konnten. Die Vorschrift sei verfassungsgemäß, da sie
    78 hinreichend bestimmt sei und nicht in den unantastbaren
    79 Kernbereich privater Lebensgestaltung eingreife. Wegen des
    80 schnellen und für den Grundrechtsschutz riskanten
    81 informationstechnischen Wandels sei der Gesetzgeber aber
    82 aufgerufen, die technischen Entwicklungen aufmerksam zu
    83 verfolgen und notfalls korrigierend einzugreifen.
    84
    85 Die Durchsuchung und Beschlagnahme des gesamten
    86 elektronischen Datenbestands einer ge-meinsam betriebenen
    87 Rechtsanwaltskanzlei und Steuerberatungsgesellschaft
    88 (Beschluss vom 12. April 2005 [Fußnote: „Beschlagnahme von
    89 Datenträgern“, BVerfGE 113, 29.]) im Rahmen eines gegen
    90 einen der Berufsträger gerichteten Ermittlungsverfahrens
    91 qualifizierte das Bundesverfassungsgericht als erheblichen
    92 Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung,
    93 dem durch strikte Beachtung des
    94 Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und bestimmter
    95 Verfahrensregelungen Rechnung getragen werden müsse. Zu
    96 berücksichtigen sei u. a., dass das Vertrauensverhältnis
    97 zwischen Rechtsanwälten und Mandanten rechtlich besonders
    98 geschützt und durch die Streubreite der sichergestellten
    99 Daten eine Vielzahl gänzlich unbeteiligter Personen von der
    100 Beschlagnahme betroffen sei.
    101
    102 Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der Rasterfahndung,
    103 bei der den Polizeibehörden von anderen Stellen
    104 personenbezogene Daten übermittelt und nachfolgend einem
    105 automatisierten Abgleich nach bestimmten Merkmalen
    106 unterzogen werden, hat das Bundesverfassungsgericht mit
    107 Beschluss vom 4. April 2006 entschieden. Eine präventive
    108 polizeiliche Rasterfahndung stelle einen Grundrechtseingriff
    109 von besonderer Intensität dar und sei daher mit dem
    110 Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nur dann
    111 vereinbar, wenn eine konkrete Gefahr für hochrangige
    112 Rechtsgüter wie den Bestand oder die Sicherheit des Bundes
    113 oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer
    114 Person gegeben sei [Fußnote: „Rasterfahndung“, BVerfGE 93,
    115 181.]. Eine allgemeine Bedrohungslage, wie etwa seit dem 11.
    116 September 2001, ohne das Vorliegen weiterer Tatsachen, sei
    117 dafür nicht ausreichend.
    118
    119 Mit Beschluss vom 13. Juni 2007 [Fußnote: „Kontenabfrage“,
    120 BVerfGE 118, 68.] erklärte das Gericht Vorschriften zum
    121 automatischen Kontenabruf teilweise für verfassungswidrig,
    122 da gegen den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz
    123 verstoßen werde. Die angegriffenen Regelungen ermächtigten
    124 einzelne Behörden zur automatisierten Abfrage von Daten, die
    125 von den Kreditinstituten vorgehalten werden müssen. Soweit
    126 das Gebot der Normenklarheit nicht eingehalten worden sei,
    127 verstoße die Regelung gegen das Recht auf informationelle
    128 Selbstbestimmung. Einen solchen Verstoß bejahte das Gericht
    129 hinsichtlich § 93 Abs. 8 Abgabenordnung (AO) damaliger
    130 Fassung, da der Kreis der zur Kontenabfrage berechtigten
    131 Behörden und die dabei verfolgten Zwecke nicht hinreichend
    132 festgelegt worden seien.
    133
    134 Auch eine Geschwindigkeitsmessung auf der Grundlage einer
    135 Verwaltungsvorschrift stellt nach der Rechtsprechung des
    136 Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 11. August 2009
    137 [Fußnote: „Verkehrsüberwachung“, NJW 2009, 3293.]) eine
    138 unzulässige Einschränkung des Rechts auf informationelle
    139 Selbstbestimmung dar, da eine solche Maßnahme nur auf
    140 gesetzlicher Grundlage, die dem Gebot der Normenklarheit und
    141 Verhältnismäßigkeit zu entsprechen habe, zulässig sei.
    142
    143 Die Einführung der Vorratsdatenspeicherung durch das „Gesetz
    144 zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung“ [Fußnote:
    145 Vom 21. Dezember 2007, BGBl. I S. 3198.] zur Umsetzung der
    146 Richtlinie 2006/24 /EG in deutsches Recht ist Gegenstand
    147 mehrerer Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Nach
    148 § 113a TKG waren Telekommunikationsdiensteanbieter
    149 verpflichtet, Verkehrsdaten von Telefondiensten (Festnetz,
    150 Mobilfunk, Fax, SMS, MMS), E-Mail-Diensten und
    151 Internetdiensten vorsorglich anlasslos für die Dauer von
    152 sechs Monaten zu speichern. Die zulässigen Zwecke der
    153 Datenverwendung waren in § 113b TKG, die Verwendung der
    154 Daten für die Strafverfolgung in § 100g StPO geregelt.
    155 Nachdem das Gericht mit Beschluss vom 28. Oktober 2008
    156 [Fußnote: BVerfGE 122, 120.] im Wege der einstweiligen
    157 Anordnung Teile der Vorratsdatenspeicherung außer Kraft
    158 gesetzt hatte, entschied es mit Urteil vom 2. März 2010
    159 [Fußnote: “Vorratsdatenspeicherung”, NJW 2010, 833.] in der
    160 Hauptsache, dass die Regelung des TKG und der StPO über die
    161 Vorratsdatenspeicherung mit Art. 10 Abs. 1 GG nicht
    162 unvereinbar und damit nichtig seien. Die
    163 Vorratsdatenspeicherung durch private
    164 Telekommunikationsunter-nehmen greife in den Schutzbereich
    165 des Fernmeldegeheimnis ein, da diese als „Hilfspersonen“ für
    166 die Aufgabenerfüllung staatlicher Behörden in Anspruch
    167 genommen würden. Zwar sei eine Speicherungspflicht in dem
    168 vorgesehenen Umfang nicht von vornherein schlechthin
    169 verfassungswidrig. Es fehle aber an einer dem
    170 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechenden Ausgestaltung.
    171 Datensicherheit, Begrenzung der Verwendungszwecke,
    172 verfassungsrechtliche Transparenz und
    173 Rechtschutzanforderungen seien nicht hinreichend
    174 gewährleistet.
    175 Für die Frage, zum Schutz welcher Rechtsgüter der Datenabruf
    176 als verhältnismäßig anzusehen ist, differenziert das Gericht
    177 zwischen der unmittelbaren und mittelbaren Nutzung der
    178 Daten. Der Abruf und die unmittelbare Nutzung der Daten
    179 seien nur verhältnismäßig, wenn sie überragend wichtigen
    180 Aufgaben des Rechtsgüterschutzes dienten. Im Bereich der
    181 Strafverfolgung setzte dies einen durch bestimmte Tatsachen
    182 begründeten Verdacht einer schweren Straftat voraus. Für die
    183 Gefahrenabwehr und die Erfüllung der Aufgaben der
    184 Nachrichtendienste dürften sie nur bei Vorliegen
    185 tatsächlicher Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr für
    186 Leib, Leben oder Freiheit einer Person, für den Bestand oder
    187 die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für eine
    188 gemeine Gefahr zugelassen werden.
    189 Soweit die Behörden in §§ 113b Satz 1 Halbs. 2, 113 TKG zur
    190 Identifizierung von IP-Adressen berechtigt wurden, von
    191 Diensteanbietern auf der Grundlage gespeicherter
    192 Verkehrsdaten die Identität bestimmter, bereits bekannter
    193 IP-Adressen zu erfragen, sei diese nur mittelbare Nutzung
    194 der Daten auch unabhängig von begrenzenden Straftaten- oder
    195 Rechtsgüterkatalogen für die Strafverfolgung, Gefahrenabwehr
    196 und die Wahrnehmung nachrichtendienstlicher Aufgaben
    197 zulässig. Für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten
    198 könnten solche Auskünfte hingegen nur in gesetzlich
    199 ausdrücklich benannten Fällen von besonderem Gewicht erlaubt
    200 werden.