1 | Neben den unter 1.3.1 erwähnten grundlegenden |
2 | Entscheidungen, dem „Volkszählungsurteil“ sowie dem Urteil |
3 | zur „Online-Durchsuchung“, hat sich das BVerfG in einer |
4 | Reihe weiterer Entscheidungen mit Fragen der |
5 | informationellen Selbstbestimmung und verwandter Grundrechte |
6 | befasst. Die Rechtsprechung des BVerfG enthält im Bereich |
7 | des Datenschutzes vielfach sehr konkrete und detaillierte |
8 | Vorgaben für das gesetzgeberische Handeln. Aus der |
9 | umfangreichen Rechtsprechung des Gerichts zum Datenschutz |
10 | sei beispielhaft auf folgende Entscheidungen hingewiesen: |
11 | |
12 | Gegenstand des Urteils vom 14. Juli 1999 waren erweiterte |
13 | Befugnisse des Bundesnachrichtendienstes zur Überwachung, |
14 | Aufzeichnung und Auswertung des Telekommunikationsverkehrs |
15 | sowie zur Übermittlung der daraus erlangten Daten an andere |
16 | Behörden. 1994 war das Gesetz zur Beschränkung des Brief-, |
17 | Post- und Fernmeldegeheimnisses (G 10) mit dem Ziel geändert |
18 | worden, Informationen u. a. im Bereich des internationalen |
19 | Terrorismus, des Drogenhandels und der Geldwäsche zu |
20 | erlangen, um sie nachfolgend den zuständigen Behörden zur |
21 | Verhinderung, Aufklärung und Verfolgung von Straftaten zur |
22 | Verfügung zu stellen. Mit Beschluss vom 5. Juli 1995 |
23 | bestimmte das BVerfG im Rahmen einer einstweiligen |
24 | Anordnung, dass einzelne der neugefassten Vorschriften |
25 | zunächst nur eingeschränkt angewendet werden dürften. In der |
26 | Hauptsache urteilte das Gericht 1999, einzelne Vorschriften |
27 | verstießen gegen Art. 10 GG. Das Fernmeldegeheimnis schütze |
28 | in erster Linie den Kommunikationsinhalt vor staatlicher |
29 | Kenntnisnahme, daneben aber auch die Kommunikationsumstände. |
30 | Der Schutz erstrecke sich auch auf den Infor-mations- und |
31 | Datenverarbeitungsprozess, der sich an zulässige |
32 | Kenntnisnahmen von geschützten Kommunikationsvorgängen |
33 | anschließe, und den Gebrauch, der von den erlangten |
34 | Kenntnissen gemacht werde. Solle der Bundesnachrichtendienst |
35 | zu Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis ermächtigt werden, |
36 | sei der Gesetzgeber verpflichtet, Vorsorge gegen Gefahren zu |
37 | treffen, die sich aus der Erhebung und Verwertung |
38 | personenbezogener Daten ergeben. Hierzu verwies das Gericht |
39 | auf die im Volkszählungsurteil entwickelten Kriterien für |
40 | Eingriffe in Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG. Diese |
41 | seien auch auf die speziellere Regelung des Art. 10 GG |
42 | übertragbar. Speicherung und Verwendung erlangter Daten |
43 | seien grundsätzlich an den Zweck gebunden, den das zur |
44 | Kenntnisnahme ermächtigende Gesetz festgelegt habe. |
45 | Zweckänderungen seien nur durch Allgemeinbelange |
46 | gerechtfertigt, die die grundrechtlich geschützten |
47 | Interessen überwiegen. Eine Sammlung nicht anonymisierter |
48 | Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht |
49 | bestimmbaren Zwecken sei mit diesen Vorgaben unvereinbar. |
50 | |
51 | Mit Beschluss vom 14. Dezember 2000 stellt das Gericht |
52 | fest, dass die Feststellung, Speicherung und künftige |
53 | Verwendung des „genetischen Fingerabdrucks“ auf der |
54 | Grundlage von § 81g StPO und § 2 |
55 | DNA-Identitätsfeststellungsgesetz in das Recht auf |
56 | informationelle Selbstbestimmung eingreife, es sich aber um |
57 | einen rechtlich zulässigen Grundrechtseingriff handele, da |
58 | u. a. das Gebot der Normenklarheit, das Übermaßverbot und |
59 | der Richtervorbehalt gewahrt seien. |
60 | |
61 | Im Urteil vom 12. April 2005 äußerte sich das BVerfG zu |
62 | einer weiteren Vorschrift der Strafprozessordnung. |
63 | Gesetzliche Grundlage für Beweiserhebungen unter Einsatz |
64 | eines satellitengestützten Ortungssystems |
65 | (Global-Positioning-System, “GPS“) und die Verwertung der |
66 | Erkenntnisse war im zu Grunde liegenden Sachverhalt § 100c |
67 | Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b Strafprozessordnung (StPO) damaliger |
68 | Fassung, wonach ohne Wissen des Betroffenen „besondere für |
69 | Observationszwecke bestimmte technische Mittel“ eingesetzt |
70 | werden konnten. Die Vorschrift sei verfassungsgemäß, da sie |
71 | hinreichend bestimmt sei und nicht in den unantastbaren |
72 | Kernbereich privater Lebensgestaltung eingreife. Wegen des |
73 | schnellen und für den Grundrechtsschutz riskanten |
74 | informationstechnischen Wandels sei der Gesetzgeber aber |
75 | aufgerufen, die technischen Entwicklungen aufmerksam zu |
76 | verfolgen und notfalls korrigierend einzugreifen. |
77 | |
78 | Die Durchsuchung und Beschlagnahme des gesamten |
79 | elektronischen Datenbestands einer ge-meinsam betriebenen |
80 | Rechtsanwaltskanzlei und Steuerberatungsgesellschaft |
81 | (Beschluss vom 12. April 2005 ) – im Rahmen eines gegen |
82 | einen der Berufsträger gerichteten Ermittlungsverfahrens – |
83 | qualifizierte das BVerfG als erheblichen Eingriff in das |
84 | Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Dem müsse durch |
85 | strikte Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und |
86 | bestimmter Verfahrensregelungen Rechnung getragen werden. Zu |
87 | berücksichtigen sei u. a., dass das Vertrauensverhältnis |
88 | zwischen Rechtsanwälten und Mandanten rechtlich besonders |
89 | geschützt und durch die Streubreite der sichergestellten |
90 | Daten eine Vielzahl gänzlich unbeteiligter Personen von der |
91 | Beschlagnahme betroffen sei. |
92 | |
93 | Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der Rasterfahndung, |
94 | bei der den Polizeibehörden von anderen Stellen |
95 | personenbezogene Daten übermittelt und nachfolgend einem |
96 | automatisierten Abgleich nach bestimmten Merkmalen |
97 | unterzogen werden, hat das BVerfG mit Beschluss vom 4. April |
98 | 2006 entschieden. Eine präventive polizeiliche |
99 | Rasterfahndung stelle einen Grundrechtseingriff von |
100 | besonderer Intensität dar und sei daher mit dem Grundrecht |
101 | auf informationelle Selbstbestimmung nur dann vereinbar, |
102 | wenn eine konkrete Gefahr für hochrangige Rechtsgüter wie |
103 | den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes |
104 | oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person gegeben sei |
105 | . Eine allgemeine Bedrohungslage, wie etwa seit dem 11. |
106 | September 2001, ohne das Vorliegen weiterer Tatsachen, sei |
107 | dafür nicht ausreichend. |
108 | |
109 | Mit Beschluss vom 13. Juni 2007 erklärte das Gericht |
110 | Vorschriften zum automatischen Kontenabruf teilweise für |
111 | verfassungswidrig, da gegen den verfassungsrechtlichen |
112 | Bestimmtheitsgrundsatz verstoßen werde. Die angegriffenen |
113 | Regelungen ermächtigten einzelne Behörden zur |
114 | automatisierten Abfrage von Daten, die von den |
115 | Kreditinstituten vorgehalten werden müssen. Soweit das Gebot |
116 | der Normenklarheit nicht eingehalten worden sei, verstoße |
117 | die Regelung gegen das Recht auf informationelle |
118 | Selbstbestimmung. Einen solchen Verstoß bejahte das Gericht |
119 | hinsichtlich § 93 Abs. 8 Abgabenordnung (AO) damaliger |
120 | Fassung, da der Kreis der zur Kontenabfrage berechtigten |
121 | Behörden und die dabei verfolgten Zwecke nicht hinreichend |
122 | festgelegt worden seien. |
123 | |
124 | Auch eine Geschwindigkeitsmessung auf der Grundlage einer |
125 | Verwaltungsvorschrift stellt nach der Rechtsprechung des |
126 | BVerfG (Beschluss vom 11. August 2009 ) eine unzulässige |
127 | Einschränkung des Rechts auf informationelle |
128 | Selbstbestimmung dar, da eine solche Maßnahme nur auf |
129 | gesetzlicher Grundlage, die dem Gebot der Normenklarheit und |
130 | Verhältnismäßigkeit zu entsprechen habe, zulässig sei. |
131 | |
132 | Die Einführung der Vorratsdatenspeicherung durch das „Gesetz |
133 | zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung“ zur |
134 | Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG in deutsches Recht ist |
135 | Gegenstand mehrerer Entscheidungen des BVerfG. Nach § 113a |
136 | TKG waren Telekommunikationsdiensteanbieter verpflichtet, |
137 | Verkehrsdaten von Telefondiensten (Festnetz, Mobilfunk, Fax, |
138 | SMS, MMS), E-Mail-Diensten und Internetdiensten vorsorglich |
139 | anlasslos für die Dauer von sechs Monaten zu speichern. Die |
140 | zulässigen Zwecke der Datenverwendung waren in § 113b TKG, |
141 | die Verwendung der Daten für die Strafverfolgung in § 100g |
142 | StPO geregelt. Nachdem das Gericht mit Beschluss vom 28. |
143 | Oktober 2008 im Wege der einstweiligen Anordnung Teile der |
144 | Vorratsdatenspeicherung außer Kraft gesetzt hatte, entschied |
145 | es mit Urteil vom 2. März 2010 in der Hauptsache, dass die |
146 | Regelungen des TKG und der StPO über die |
147 | Vorratsdatenspeicherung mit Art. 10 Abs. 1 GG unvereinbar |
148 | und damit nichtig seien. Die Vorratsdatenspeicherung durch |
149 | private Telekommunikationsunternehmen greife in den |
150 | Schutzbereich des Fernmeldegeheimnis ein, da diese als |
151 | „Hilfspersonen“ für die Aufgabenerfüllung staatlicher |
152 | Behörden in Anspruch genommen würden. Zwar sei eine |
153 | Speicherungspflicht in dem vorgesehenen Umfang nicht von |
154 | vornherein schlechthin verfassungswidrig. Es fehle aber an |
155 | einer dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechenden |
156 | Ausgestaltung. Datensicherheit, Begrenzung der |
157 | Verwendungszwecke, verfassungsrechtliche Transparenz und |
158 | Rechtschutzanforderungen seien nicht hinreichend |
159 | gewährleistet. |
160 | Für die Frage, zum Schutz welcher Rechtsgüter der Datenabruf |
161 | als verhältnismäßig anzusehen ist, differenziert das Gericht |
162 | zwischen der unmittelbaren und mittelbaren Nutzung der |
163 | Daten. Der Abruf und die unmittelbare Nutzung der Daten |
164 | seien nur verhältnismäßig, wenn sie überragend wichtigen |
165 | Aufgaben des Rechtsgüterschutzes dienten. Im Bereich der |
166 | Strafverfolgung setze dies einen durch bestimmte Tatsachen |
167 | begründeten Verdacht einer schweren Straftat voraus. Für die |
168 | Gefahrenabwehr und die Erfüllung der Aufgaben der |
169 | Nachrichtendienste dürften diese Maßnahmen nur bei Vorliegen |
170 | tatsächlicher Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr für |
171 | Leib, Leben oder Freiheit einer Person, für den Bestand oder |
172 | die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für eine |
173 | gemeine Gefahr zugelassen werden. |
174 | Soweit die Behörden in §§ 113b Satz 1 Halbs. 2, 113 TKG zur |
175 | Identifizierung von IP-Adressen berechtigt wurden, von |
176 | Diensteanbietern auf der Grundlage gespeicherter |
177 | Verkehrsdaten die Identität bestimmter, bereits bekannter |
178 | IP-Adressen zu erfragen, sei diese nur mittelbare Nutzung |
179 | der Daten auch unabhängig von begrenzenden Straftaten- oder |
180 | Rechtsgüterkatalogen für die Strafverfolgung, Gefahrenabwehr |
181 | und die Wahrnehmung nachrichtendienstlicher Aufgaben |
182 | zulässig. Für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten |
183 | könnten solche Auskünfte hingegen nur in gesetzlich |
184 | ausdrücklich benannten Fällen von besonderem Gewicht erlaubt |
185 | werden. |
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1.3.4 Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Originalversion)
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