1.3.4 Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

1-1 von 1
  • 1.3.4 Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Originalversion)

    von EnqueteBuero, angelegt
    1 Neben den unter 1.3.1 erwähnten grundlegenden
    2 Entscheidungen, dem „Volkszählungsurteil“ sowie dem Urteil
    3 zur „Online-Durchsuchung“, hat sich das BVerfG in einer
    4 Reihe weiterer Entscheidungen mit Fragen der
    5 informationellen Selbstbestimmung und verwandter Grundrechte
    6 befasst. Die Rechtsprechung des BVerfG enthält im Bereich
    7 des Datenschutzes vielfach sehr konkrete und detaillierte
    8 Vorgaben für das gesetzgeberische Handeln. Aus der
    9 umfangreichen Rechtsprechung des Gerichts zum Datenschutz
    10 sei beispielhaft auf folgende Entscheidungen hingewiesen:
    11
    12 Gegenstand des Urteils vom 14. Juli 1999 waren erweiterte
    13 Befugnisse des Bundesnachrichtendienstes zur Überwachung,
    14 Aufzeichnung und Auswertung des Telekommunikationsverkehrs
    15 sowie zur Übermittlung der daraus erlangten Daten an andere
    16 Behörden. 1994 war das Gesetz zur Beschränkung des Brief-,
    17 Post- und Fernmeldegeheimnisses (G 10) mit dem Ziel geändert
    18 worden, Informationen u. a. im Bereich des internationalen
    19 Terrorismus, des Drogenhandels und der Geldwäsche zu
    20 erlangen, um sie nachfolgend den zuständigen Behörden zur
    21 Verhinderung, Aufklärung und Verfolgung von Straftaten zur
    22 Verfügung zu stellen. Mit Beschluss vom 5. Juli 1995
    23 bestimmte das BVerfG im Rahmen einer einstweiligen
    24 Anordnung, dass einzelne der neugefassten Vorschriften
    25 zunächst nur eingeschränkt angewendet werden dürften. In der
    26 Hauptsache urteilte das Gericht 1999, einzelne Vorschriften
    27 verstießen gegen Art. 10 GG. Das Fernmeldegeheimnis schütze
    28 in erster Linie den Kommunikationsinhalt vor staatlicher
    29 Kenntnisnahme, daneben aber auch die Kommunikationsumstände.
    30 Der Schutz erstrecke sich auch auf den Infor-mations- und
    31 Datenverarbeitungsprozess, der sich an zulässige
    32 Kenntnisnahmen von geschützten Kommunikationsvorgängen
    33 anschließe, und den Gebrauch, der von den erlangten
    34 Kenntnissen gemacht werde. Solle der Bundesnachrichtendienst
    35 zu Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis ermächtigt werden,
    36 sei der Gesetzgeber verpflichtet, Vorsorge gegen Gefahren zu
    37 treffen, die sich aus der Erhebung und Verwertung
    38 personenbezogener Daten ergeben. Hierzu verwies das Gericht
    39 auf die im Volkszählungsurteil entwickelten Kriterien für
    40 Eingriffe in Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG. Diese
    41 seien auch auf die speziellere Regelung des Art. 10 GG
    42 übertragbar. Speicherung und Verwendung erlangter Daten
    43 seien grundsätzlich an den Zweck gebunden, den das zur
    44 Kenntnisnahme ermächtigende Gesetz festgelegt habe.
    45 Zweckänderungen seien nur durch Allgemeinbelange
    46 gerechtfertigt, die die grundrechtlich geschützten
    47 Interessen überwiegen. Eine Sammlung nicht anonymisierter
    48 Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht
    49 bestimmbaren Zwecken sei mit diesen Vorgaben unvereinbar.
    50
    51 Mit Beschluss vom 14. Dezember 2000 stellt das Gericht
    52 fest, dass die Feststellung, Speicherung und künftige
    53 Verwendung des „genetischen Fingerabdrucks“ auf der
    54 Grundlage von § 81g StPO und § 2
    55 DNA-Identitätsfeststellungsgesetz in das Recht auf
    56 informationelle Selbstbestimmung eingreife, es sich aber um
    57 einen rechtlich zulässigen Grundrechtseingriff handele, da
    58 u. a. das Gebot der Normenklarheit, das Übermaßverbot und
    59 der Richtervorbehalt gewahrt seien.
    60
    61 Im Urteil vom 12. April 2005 äußerte sich das BVerfG zu
    62 einer weiteren Vorschrift der Strafprozessordnung.
    63 Gesetzliche Grundlage für Beweiserhebungen unter Einsatz
    64 eines satellitengestützten Ortungssystems
    65 (Global-Positioning-System, “GPS“) und die Verwertung der
    66 Erkenntnisse war im zu Grunde liegenden Sachverhalt § 100c
    67 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b Strafprozessordnung (StPO) damaliger
    68 Fassung, wonach ohne Wissen des Betroffenen „besondere für
    69 Observationszwecke bestimmte technische Mittel“ eingesetzt
    70 werden konnten. Die Vorschrift sei verfassungsgemäß, da sie
    71 hinreichend bestimmt sei und nicht in den unantastbaren
    72 Kernbereich privater Lebensgestaltung eingreife. Wegen des
    73 schnellen und für den Grundrechtsschutz riskanten
    74 informationstechnischen Wandels sei der Gesetzgeber aber
    75 aufgerufen, die technischen Entwicklungen aufmerksam zu
    76 verfolgen und notfalls korrigierend einzugreifen.
    77
    78 Die Durchsuchung und Beschlagnahme des gesamten
    79 elektronischen Datenbestands einer ge-meinsam betriebenen
    80 Rechtsanwaltskanzlei und Steuerberatungsgesellschaft
    81 (Beschluss vom 12. April 2005 ) – im Rahmen eines gegen
    82 einen der Berufsträger gerichteten Ermittlungsverfahrens –
    83 qualifizierte das BVerfG als erheblichen Eingriff in das
    84 Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Dem müsse durch
    85 strikte Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und
    86 bestimmter Verfahrensregelungen Rechnung getragen werden. Zu
    87 berücksichtigen sei u. a., dass das Vertrauensverhältnis
    88 zwischen Rechtsanwälten und Mandanten rechtlich besonders
    89 geschützt und durch die Streubreite der sichergestellten
    90 Daten eine Vielzahl gänzlich unbeteiligter Personen von der
    91 Beschlagnahme betroffen sei.
    92
    93 Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der Rasterfahndung,
    94 bei der den Polizeibehörden von anderen Stellen
    95 personenbezogene Daten übermittelt und nachfolgend einem
    96 automatisierten Abgleich nach bestimmten Merkmalen
    97 unterzogen werden, hat das BVerfG mit Beschluss vom 4. April
    98 2006 entschieden. Eine präventive polizeiliche
    99 Rasterfahndung stelle einen Grundrechtseingriff von
    100 besonderer Intensität dar und sei daher mit dem Grundrecht
    101 auf informationelle Selbstbestimmung nur dann vereinbar,
    102 wenn eine konkrete Gefahr für hochrangige Rechtsgüter wie
    103 den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes
    104 oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person gegeben sei
    105 . Eine allgemeine Bedrohungslage, wie etwa seit dem 11.
    106 September 2001, ohne das Vorliegen weiterer Tatsachen, sei
    107 dafür nicht ausreichend.
    108
    109 Mit Beschluss vom 13. Juni 2007 erklärte das Gericht
    110 Vorschriften zum automatischen Kontenabruf teilweise für
    111 verfassungswidrig, da gegen den verfassungsrechtlichen
    112 Bestimmtheitsgrundsatz verstoßen werde. Die angegriffenen
    113 Regelungen ermächtigten einzelne Behörden zur
    114 automatisierten Abfrage von Daten, die von den
    115 Kreditinstituten vorgehalten werden müssen. Soweit das Gebot
    116 der Normenklarheit nicht eingehalten worden sei, verstoße
    117 die Regelung gegen das Recht auf informationelle
    118 Selbstbestimmung. Einen solchen Verstoß bejahte das Gericht
    119 hinsichtlich § 93 Abs. 8 Abgabenordnung (AO) damaliger
    120 Fassung, da der Kreis der zur Kontenabfrage berechtigten
    121 Behörden und die dabei verfolgten Zwecke nicht hinreichend
    122 festgelegt worden seien.
    123
    124 Auch eine Geschwindigkeitsmessung auf der Grundlage einer
    125 Verwaltungsvorschrift stellt nach der Rechtsprechung des
    126 BVerfG (Beschluss vom 11. August 2009 ) eine unzulässige
    127 Einschränkung des Rechts auf informationelle
    128 Selbstbestimmung dar, da eine solche Maßnahme nur auf
    129 gesetzlicher Grundlage, die dem Gebot der Normenklarheit und
    130 Verhältnismäßigkeit zu entsprechen habe, zulässig sei.
    131
    132 Die Einführung der Vorratsdatenspeicherung durch das „Gesetz
    133 zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung“ zur
    134 Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG in deutsches Recht ist
    135 Gegenstand mehrerer Entscheidungen des BVerfG. Nach § 113a
    136 TKG waren Telekommunikationsdiensteanbieter verpflichtet,
    137 Verkehrsdaten von Telefondiensten (Festnetz, Mobilfunk, Fax,
    138 SMS, MMS), E-Mail-Diensten und Internetdiensten vorsorglich
    139 anlasslos für die Dauer von sechs Monaten zu speichern. Die
    140 zulässigen Zwecke der Datenverwendung waren in § 113b TKG,
    141 die Verwendung der Daten für die Strafverfolgung in § 100g
    142 StPO geregelt. Nachdem das Gericht mit Beschluss vom 28.
    143 Oktober 2008 im Wege der einstweiligen Anordnung Teile der
    144 Vorratsdatenspeicherung außer Kraft gesetzt hatte, entschied
    145 es mit Urteil vom 2. März 2010 in der Hauptsache, dass die
    146 Regelungen des TKG und der StPO über die
    147 Vorratsdatenspeicherung mit Art. 10 Abs. 1 GG unvereinbar
    148 und damit nichtig seien. Die Vorratsdatenspeicherung durch
    149 private Telekommunikationsunternehmen greife in den
    150 Schutzbereich des Fernmeldegeheimnis ein, da diese als
    151 „Hilfspersonen“ für die Aufgabenerfüllung staatlicher
    152 Behörden in Anspruch genommen würden. Zwar sei eine
    153 Speicherungspflicht in dem vorgesehenen Umfang nicht von
    154 vornherein schlechthin verfassungswidrig. Es fehle aber an
    155 einer dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechenden
    156 Ausgestaltung. Datensicherheit, Begrenzung der
    157 Verwendungszwecke, verfassungsrechtliche Transparenz und
    158 Rechtschutzanforderungen seien nicht hinreichend
    159 gewährleistet.
    160 Für die Frage, zum Schutz welcher Rechtsgüter der Datenabruf
    161 als verhältnismäßig anzusehen ist, differenziert das Gericht
    162 zwischen der unmittelbaren und mittelbaren Nutzung der
    163 Daten. Der Abruf und die unmittelbare Nutzung der Daten
    164 seien nur verhältnismäßig, wenn sie überragend wichtigen
    165 Aufgaben des Rechtsgüterschutzes dienten. Im Bereich der
    166 Strafverfolgung setze dies einen durch bestimmte Tatsachen
    167 begründeten Verdacht einer schweren Straftat voraus. Für die
    168 Gefahrenabwehr und die Erfüllung der Aufgaben der
    169 Nachrichtendienste dürften diese Maßnahmen nur bei Vorliegen
    170 tatsächlicher Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr für
    171 Leib, Leben oder Freiheit einer Person, für den Bestand oder
    172 die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für eine
    173 gemeine Gefahr zugelassen werden.
    174 Soweit die Behörden in §§ 113b Satz 1 Halbs. 2, 113 TKG zur
    175 Identifizierung von IP-Adressen berechtigt wurden, von
    176 Diensteanbietern auf der Grundlage gespeicherter
    177 Verkehrsdaten die Identität bestimmter, bereits bekannter
    178 IP-Adressen zu erfragen, sei diese nur mittelbare Nutzung
    179 der Daten auch unabhängig von begrenzenden Straftaten- oder
    180 Rechtsgüterkatalogen für die Strafverfolgung, Gefahrenabwehr
    181 und die Wahrnehmung nachrichtendienstlicher Aufgaben
    182 zulässig. Für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten
    183 könnten solche Auskünfte hingegen nur in gesetzlich
    184 ausdrücklich benannten Fällen von besonderem Gewicht erlaubt
    185 werden.