1.2.1 Europäisches Primärrecht

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    1 Durch das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon hat das
    2 Primärrecht eine Stärkung erfahren und ist nun an zwei
    3 Stellen ausdrücklich im Primärrecht verankert:
    4
    5 Die grundsätzliche Regelung findet sich im Vertrag über die
    6 Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Sie ist mit Art.
    7 16 AEUV an herausgehobener Stelle im Titel II (Allgemein
    8 geltende Bestimmungen) verortet und soll so gewährleisten,
    9 dass der Datenschutz bei sämtlichen in den EU-Verträgen
    10 erfassten Bereichen und Politiken gilt. [Fußnote: Zerdick,
    11 in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, 5. Auflage 2010,
    12 Art. 16 AEUV, Rn. 7.] Art. 16 AEUV [Datenschutz] lautet:
    13
    14 „(1) Jede Person hat das Recht auf Schutz der sie
    15 betreffenden personenbezogenen Daten.
    16
    17 (2) Das Europäische Parlament und der Rat erlassen gemäß dem
    18 ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Vorschriften über den
    19 Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung
    20 personenbezogener Daten durch die Organe, Einrichtungen und
    21 sonstigen Stellen der Union sowie durch die Mitgliedstaaten
    22 im Rahmen der Ausübung von Tätigkeiten, die in den
    23 Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, und über den
    24 freien Datenverkehr. Die Einhaltung dieser Vorschriften wird
    25 von unabhängigen Behörden überwacht. (…)“
    26
    27 Art. 16 AEUV enthält in Absatz 1 erstmals ein
    28 primärrechtliches Grundrecht des Datenschutzes [Fußnote:
    29 Kotzur, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, 5. Auflage 2010,
    30 Art. 16 AEUV, Rn. 2; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.),
    31 Das Verfassungsrecht der EU, 3. Auflage 2007, Art. 286 EGV,
    32 Rn. 29; Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2.
    33 Auflage 2009, Art. 286 EGV, Rn. 6.], das sowohl gegenüber
    34 den EU-Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen gilt als
    35 auch gegenüber den Mitgliedstaaten, soweit sie im
    36 Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln. Korrespondierend
    37 zu diesem Rechtsanspruch auf Datenschutz ist in Absatz 2
    38 erstmals auf primärrechtlicher Ebene eine einzige und
    39 allgemeine Rechtsetzungsbefugnis der EU ausschließlich zum
    40 Schutz personenbezogener Daten normiert. So werden das
    41 Europäische Parlament und der Rat der EU im Bereich des
    42 Datenschutzes ermächtigt, Gesetzgebungsakte nach dem
    43 ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zu beschließen.
    44 [Fußnote: Im Zusammenhang mit Art. 16 AEUV sind weiterhin
    45 die „Erklärung Nr. 20 zu Art. 16 des Vertrages über die
    46 Arbeitsweise der Europäischen Union“ und die „Erklärung Nr.
    47 21 zum Schutz personenbezogener Daten im Bereich der
    48 justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und der
    49 polizeilichen Zusammenarbeit“ relevant.]
    50
    51 Neben Art. 16 AEUV wurde mit dem Vertrag von Lissabon mit
    52 Art. 39 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) eine
    53 Beschlussvorschrift zum Datenschutz speziell für den Bereich
    54 der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eingeführt.
    55 Art. 39 EUV „Schutz personenbezogener Daten“ lautet:
    56
    57 „Gemäß Artikel 16 des Vertrags über die Arbeitsweise der
    58 Europäischen Union und ab-weichend von Absatz 2 des
    59 genannten Artikels erlässt der Rat einen Beschluss zur
    60 Festlegung von Vorschriften über den Schutz natürlicher
    61 Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch
    62 die Mitgliedstaaten im Rahmen der Ausübung von Tätigkeiten,
    63 die in den Anwendungsbereich dieses Kapitels fallen, und
    64 über den freien Datenverkehr. Die Einhaltung dieser
    65 Vorschriften wird von unabhängigen Behörden überwacht.“
    66
    67 Art. 39 EUV knüpft an die allgemeine Vorschrift des Art. 16
    68 AEUV an, verlangt aber für die nähere Regelung des
    69 Datenschutzes im Bereich der Gemeinsamen Außen- und
    70 Sicherheitspolitik ein anderes Verfahren der Rechtsetzung,
    71 und zwar einen Beschluss des Rates. [Fußnote: Geiger, in:
    72 Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, 5. Auflage 2010, Art. 39 EUV,
    73 Rn. 3.]
    74
    75 Mit dem Vertrag von Lissabon wurde schließlich die „Charta
    76 der Grundrechte der Europäischen Union“ [Fußnote: ABl. C 83
    77 vom 30. März 2010, S. 393, in Kraft getreten am 1. Dezember
    78 2009.] im Dezember 2009 rechtsverbindlich. Sie steht nun auf
    79 gleicher Hierarchiestufe wie das Primärrecht. [Fußnote: S.
    80 Art. 6 Abs. 1 EUV.] Art. 8 der Charta regelt parallel zu
    81 Art. 16 AEUV den Schutz personenbezogener Daten. Art. 8 Abs.
    82 1 der Charta stimmt wörtlich mit Art. 16 Abs. 1 AEUV
    83 überein; Absatz 2 formt das unionale Grundrecht näher aus.
    84 [Fußnote: Kotzur, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, 5.
    85 Auflage 2010, Art. 16 AEUV, Rn. 2; Hatje, in: Schwarze
    86 (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Auflage 2009, Art. 286 EGV, Rn.
    87 6.] Artikel 8 der Charta („Schutz personenbezogener Daten“)
    88 lautet:
    89
    90 „(1) Jede Person hat das Recht auf Schutz der sie
    91 betreffenden personenbezogenen Daten.
    92
    93 (2) Diese Daten dürfen nur nach Treu und Glauben für
    94 festgelegte Zwecke und mit Einwilligung der betroffenen
    95 Person oder auf einer sonstigen gesetzlich geregelten
    96 legitimen Grundlage verarbeitet werden. Jede Person hat das
    97 Recht, Auskunft über die sie betreffenden erhobenen Daten zu
    98 erhalten und die Berichtigung der Daten zu erwirken.
    99
    100 (3) Die Einhaltung dieser Vorschriften wird von einer
    101 unabhängigen Stelle überwacht.“
    102
    103 Das Grundrecht auf Datenschutz gem. Art. 8 Grundrechtecharta
    104 verpflichtet gem. Art. 51 Abs. 1 S. 1 Grundrechtecharta
    105 zunächst die Organe und Einrichtungen der EU bei sämtlichen
    106 ihrer Aktivitäten; es gibt keinen grundrechtsfreien Raum in
    107 der EU. [Fußnote: Jarass, Charta der Grundrechte der
    108 Europäischen Union, 2010, Art. 51, Rn. 4.] Darüber hinaus
    109 sind auch die Mitgliedstaaten auf das unionale Grundrecht
    110 auf Datenschutz „bei der Durchführung des Rechts der Union“
    111 gem. Art. 51 Abs. 1 S. 1 Grundrechtecharta verpflichtet.
    112 [Fußnote: Vgl. hierzu Rohleder, Grundrechtsschutz im
    113 europäischen Mehrebenen-System, 2009, S. 396 ff.] Eine
    114 Bindung der Mitgliedstaaten an das unionale Grundrecht des
    115 Datenschutzes ist damit in jedem Fall bei der legislativen
    116 Umsetzung von Richtlinien und beim administrativen Vollzug
    117 von Verordnungen oder unmittelbar anwendbaren Richtlinien
    118 durch die Mitgliedstaaten gegeben. [Fußnote: Kingreen, in:
    119 Calliess/Ruffert (Hrsg.), Das Verfassungsrecht der EU, 2007,
    120 Art. 51 GRCh, Rn. 8; Rohleder, Grundrechtsschutz im
    121 europäischen Mehrebenen-System, 2009, S. 390.] Nach der
    122 Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) sind die
    123 Grundrechte der Union von den Mitgliedstaaten jedoch über
    124 die bloße Durchführung des Unionsrechts hinaus schon dann
    125 anzuwenden, wenn eine nationale Maßnahme in den
    126 Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, z. B. in den
    127 Fällen, in denen die Mitgliedstaaten Grundfreiheiten des
    128 Binnenmarkts einschränken. [Fußnote: EuGH, Rs. C-260/89,
    129 Slg. 1991, S. I-2925, Rn. 42 ff. = EuGRZ 1991, S. 274 – ERT
    130 (Leiturteil). Hierzu Scheuing, Zur Grundrechtsbindung der
    131 EU-Mitgliedstaaten, Europarecht (EuR) 2005, S. 162 (164);
    132 Kokott/Sobotta, Die Charta der Grundrechte der Europäischen
    133 Union nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon,
    134 Europäische Grundrechtezeitschrift (EuGRZ) 2010, S. 265
    135 (268).] Überwiegend wird in der Rechtswissenschaft davon
    136 ausgegangen, dass diese weite Auslegung des EuGH durch das
    137 Verbindlichwerden der Grundrechtecharta nicht tangiert wird.
    138 [Fußnote: Vgl. Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen
    139 Mehrebenen-System, 2009, S. 398; Kokott/Sobotta, Die Charta
    140 der Grundrechte der Europäischen Union nach dem
    141 Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, EuGRZ 2010, S. 265
    142 (268).] Festzuhalten bleibt, dass das unionale Grundrecht
    143 auf Datenschutz nur dann nicht in den Mitgliedstaaten zum
    144 Tragen kommt, wenn sie allein im Rahmen ihrer nationalen
    145 Kompetenzen agieren. [Fußnote: Jarass, Charta der
    146 Grundrechte der Europäischen Union, 2010, Art. 51, Rn. 10.]